Auf der Annaberger Kät wurde an einem Krankenwagen ein Reifen zerstochen. Foto: DRK Kreisverband Annaberg-Buchholz
Für Sie berichtet
Michael Urbach
Erschienen am 28.06.2019
Sanitäter, Polizisten und Feuerwehrleute sind Menschen, die anderen helfen. Doch offenbar sinken gegenüber diesen Gruppen Respekt und Hemmschwellen. Jetzt wurde die Kät zum Tatort – in einem besonders absurden Fall.
Annaberg-Buchholz.
Das Foto zeigt einen Krankenwagen mit einem Platten auf der Kät. Doch der Reifen links vorne hat nicht etwa Luft verloren, weil er über eine Schraube oder eine Scherbe gefahren wäre. Der Reifen wurde zerstochen. „Das ist bedauerlich, ärgerlich, unverständlich“, sagt Holger Scholz (49). Er ist Ehrenamtskoordinator beim DRK Kreisverband Annaberg-Buchholz und betreut damit auch die Sanitäter, die in ihrer Freizeit auf dem Volksfest Besucher versorgen, die über Übelkeit und Kreislaufprobleme klagen oder sich verletzt haben. „Der Krankenwagen bietet uns einen zusätzlichen Behandlungsplatz, wenn mal die Luft brennt“, erklärt Scholz. Falls es mal ganz schnell gehen muss, könnten mit ihm nach Absprache mit der Rettungsleitstelle auch Menschen ins Krankenhaus gebracht werden. Am Dienstagmorgen mussten die Sanitäter nun feststellen, dass dieser Wagen außer Gefecht gesetzt wurde. In der Vergangenheit seien Kennzeichen geklaut worden, sagt Scholz. „Da kann man notfalls noch fahren. Aber einen zerstochenen Reifen, das hatten wir noch nicht.“
Der Rettungsdienst: Der Respekt gegenüber Menschen in Uniform hat generell nachgelassen, glaubt Robin Leistner, der beim DRK-Kreisverband den hauptamtlichen Rettungsdienst mit rund 60 Mitarbeitern leitet. Wenngleich körperliche Angriffe im Raum Annaberg kein ernsthaftes Thema seien, habe man sich an unschönes Benehmen gewöhnt. „Die zunehmende Respektlosigkeit fällt auf“, so der 30-Jährige. Beispiele aus Einsätzen weiß er zuhauf. Er berichtet etwa von einem Jungen im Grundschulalter, der ihm bei der Bitte, vom Rettungswagen wegzugehen, „fick dich“ an den Kopf geworfen habe. Oder von einem Passanten mittleren Alters, der beim Reanimieren eines Herzinfarkt-Opfers im Erzgebirgscenter über den am Boden Liegenden hinweggestiegen und über den Rettungsrucksack gestolpert sei. Auch das Filmen und Fotografieren nimmt zu, hat Leistner festgestellt – je größer die Menschenansammlung sei, desto hemmungsloser werde geknipst und gefilmt. „Man hat den Eindruck, dass Voyeurismus, Respektlosigkeit, Egoismus zugenommen haben“, sagt er. Möglicherweise, spekuliert Leistner, habe das mit den Sozialen Medien zu tun, mit dem Immer-Bilder-Machen, mit Sensationsgeilheit.
Die Polizei: Eine ganzheitliche Statistik zu Angriffen auf Rettungskräfte gebe es nicht, sagt Polizeisprecherin Doreen Göhler, da Taten nach Straftatbeständen erfasst werden. Die Fallzahlen beim „Widerstand gegen Vollstreckungsbeamte“, der solche Attacken beinhaltet, schwankten in den vergangenen Jahren im Erzgebirge zwischen 46 und 66. Voriges Jahr waren es 51 Fälle, hinzu kommen 20 des neu geschaffenen Straftatbestands „Angriff auf Vollstreckungsbeamte“. Die Auswertungen zeigten trotz 2018 gestiegener Widerstandshandlungen keinen eindeutigen Trend. Konkrete Vorfälle tauchen regelmäßig in den Medieninformationen der Polizei auf. Erst Dienstag war in Annaberg eine Beamtin verletzt worden, als sie bei einem Streit in einem Bus einschritt.
Die Feuerwehr: Die Feuerwehr sieht sich gefühlt zunehmender Aggression ausgesetzt. Angesichts der Tatsache, dass es im Kreis bisher keine offizielle statistische Erfassung gibt, sollen ab Juli derartige Vorkommnisse zentral im Kreisfeuerwehrverband gesammelt werden. Das kündigte Pressesprecher Paul Schaarschmidt auf „Freie Presse“-Anfrage an. Gunnar Ullmann, stellvertretender Vorsitzender des Landesfeuerwehrverbandes und Kreisverbandschef, fordert zudem eine zukunftsträchtige Lösung für ganz Sachsen, etwa in Form einer Software oder geschützten Homepage, wo diese Dinge hinterlegt werden können – um belegbare Zahlen zu haben, Trends zu bemerken oder auch um Kosten und Dozenten planen zu können, die Rettungskräfte zur Deeskalation ausbilden.
Wie eine Umfrage des Kreisverbandes ergab, erleben Feuerwehrleute zumeist verbale Attacken, jedoch gab es auch körperliche. Als schlimmsten Vorfall nennt Schaarschmidt den Messerangriff auf zwei Schlettauer Kameraden außer Dienst im September beim von der Feuerwehr veranstalteten Teichfest. Ein Auszug weiterer Vorfälle: Bei einem Brand in Jahnsdorfim Oktober ignorierte ein Fahrzeug die Vorgaben, fuhr über einen Schlauch, dieser platzte. Einsatzkräfte wurden wegen Straßensperrungen massiv beleidigt, als sie eine Ölspur beseitigten beziehungsweise gegen Schneebruch kämpften. Erst diese Woche wurden bei einem Verkehrsunfall Absperrposten im scharfen Ton angegangen: „Ihr habt wohl nichts zu tun.“
Die Gründe für solches Verhalten sieht man teils ähnlich wie im Rettungsdienst, etwa im Hinblick auf Facebook und Co. „Auch immer mehr Stress und Zeitdruck im Alltag bringt die Menschen dazu, bei geringsten Abweichungen jeden anzugehen, der ihren Weg kreuzt, eben auch der Absperrposten der Feuerwehr“, sagt Schaarschmidt, der von einer Verrohung der Gesellschaft spricht. „Ein wichtiger Punkt ist auch, dass Täter keine größeren Strafen fürchten müssen.“ Die jüngsten Gesetzesverschärfungen reichten da nicht aus. Der Kreisverband hält etwa eine Verbindung von Geldstrafen und Führerscheinentzug für sinnvoll.
Manchmal gelingt es aber doch, Unverfrorene zur Räson zu bringen. Als ein Rettungswagen wegen eines Notfalls eine Einbahnstraße blockierte, berichtet DRK-Mann Robin Leistner, stand ein Auto hinter dem Einsatzfahrzeug. Der Fahrer des Pkw hupte, gestikulierte, schrie, er müsse zur Arbeit. Leistner bat ihn aufs Trittbrett des Rettungswagens und stellte eine Frage: Ob es dringender sei, auf Arbeit zu kommen, oder jemanden zu versorgen, der mit blauem Kopf und Sauerstoffmangel ums Überleben kämpft. „Der Autofahrer“, sagt Leistner, „hat um Verzeihung gebeten“.
© Copyright Chemnitzer Verlag und Druck GmbH & Co. KG